Wie es sich anfühlt, in der Doppelrolle des Favoriten und Außenseiters zugleich zu sein, wissen wir spätestens seit vergangenem Sonntagvormittag. Zu Gast waren wir nämlich bei der nominell starken zweiten Mannschaft der SG Ammerland, die sich in der letzten Spielzeit noch zum Verbandsligameister gekrönt hatte. Dass ich sie an vorheriger Stelle nur als nominell stark bezeichne, ist überhaupt nicht despektierlich gemeint. Vielmehr hängt es mit dem Umstand zusammen, dass die SGA auf dem Papier zwar einen in der Breite guten Kader hat, dieser allerdings es noch nicht vermocht hat, an die herausragende Performance der letzten Spielzeit anzuknüpfen. Vor dem Spieltag rangierten die Ammerländer mit gerade einmal zwei Punkten auf dem vorletzten Tabellenplatz. Entsprechend favorisiert hätten wir als Tabellenzweiter in den Mannschaftskampf gehen müssen, doch unsere personelle Ausgangslage war, um es mal sanft auszudrücken, so bescheiden, dass wir vor dem Start der Uhren mit etwas Zählbaren mehr als zufrieden gewesen wären. Duc fehlte aufgrund von Verpflichtungen auf Bezirksebene, zudem meldete sich Dirk am frühen Morgen krankheitsbedingt ab. Da wir kurzfristig keinen Ersatz auftreiben konnten und mit Duc und Dirk nicht irgendwer, sondern zwei wichtige Punktegaranten fehlten, bürdete uns der Schachgott an diesem Tag die wohl anspruchsvollste Herausforderung der bisherigen Saison auf. Und das ausgerechnet im Kurort Bad Zwischenahn – eigentlich wollten wir da nur regenerieren. Sieben Gefährten also (wie bei Herr der Ringe, klingt eigentlich ganz cool) machten sich auf den Weg, um den Ring nach Mordor… ach, vergessen wir es! Mit folgender Aufstellung setzten wir uns zum Ziel, die 0:1-Hypothek aufzuholen: Nazar; Brett zwei blieb frei; Günter; Kai; Christoph; Emil; Rainer und Ralf.
Brett 5: Christoph führte die weißen Steine gegen Jannes Gerdes ins Feld. Gerdes gehört am vierten bzw. fünften Brett zu den stärksten Spielern der Liga. Letzte Saison holte der Ammerländer Youngster 8 von 9 möglichen Punkte, bei einer DWZ-Performance von 2132! Die spielerische Klasse bekam Christoph leider zu spüren: Gerdes war bei seinem Angriffsspiel auf dem Königsflügel gnadenlos und durchdrang Christophs Defensive. 0:2
Brett 1: Nazar bekam es mit Julian Hans zu tun, der im Meisterturnier der Landeseinzelmeisterschaften Anfang des Jahres unter Beweis gestellt hatte, mit den besten Spielern des Bundeslandes mithalten zu können. Nazar entschied sich im Damengambit dazu, den nicht selten giftigen Bauern auf g7 mit seiner Dame zu nehmen. Hans erzeugte sukzessive Gegenspiel und konnte sich nach anfänglicher Druckphase befreien. Nazar blieb cool, für einen vollen Punkt reichte es aber nicht. Am Ende teilten sich die beiden die Punkte. 0,5:2,5
Brett 4: Wieder einmal durfte ich mein Caro-Kann Repertoire hervorholen. Diesmal bekam ich eine Variante aufs Brett, in der ich mich zwischenzeitlich mit einem Minusbauern abfinden musste. Im 11. Zug entschied ich mich dazu, meinem Gegner den Mehrbauern komplett zu überlassen und es mit Initiative zu rechtfertigen.
In dieser Stellung habe ich den Entschluss gefasst, mit 11. e6 Druck auf den d5 aufzubauen und meinen Gegner zu einer Entscheidung zu zwingen. Vorbeiziehen, schlagen oder stehenlassen? Wendt schlug auf e6, was objektive in Ordnung ist. Jedoch konnte ich mit Tempo (Lxe6) nebst Sd5, Te8 alle meine Figuren aktivieren und Angriff erzeugen.
Nur mit exaktem Defensivspiel hätte Wendt einigermaßen das Gleichgewicht halten können. Weil er aber die richtigen Züge nicht fand, schlug mein entwickelter Angriffsplan durch. Ich postierte meine Läufer ins Zentrum und schielte in Richtung des weißen Königs.
Wendt beorderte seine Dame aufs Ausgangsfeld zurück. Ein Fehler, den ich als Schwarzspielender mit dem taktischen Schlag 18. Lxg2! (mögl. Variante: Kxg2, Dg4+, Kh1, Df4 mit unausweichlicher Mattdrohung auf h2) ausnutzen konnte.
Am Ende krallte ich mir alle Bauern am Königflügel und wickelte die Partie in ein klar gewonnenes Leichtfigurenendspiel ab. 1,5:2,5
Kurze Zwischenbilanz: Zu diesem Zeitpunkt lagen wir also „nur“ mit einem Punkt zurück, doch die Brettsituation verhieß nichts Gutes. Günter hatte eine mehr als komplizierte Stellung vor sich, Emil geriet in einer minimal schlechteren Stellung in Zeitnot und auch bei Rainer und Ralf konnte nicht unbedingt etwas Zählbares erwartet werden. Aber gerne erinnern wir uns an das Spiel gegen Emden zurück: Wie war das nochmal mit diesem „legendärischen Comeback“?
„Ralf, zeig der Welt, dass du besser bist als Carlsen.“
Brett 8: Wir beginnen mit dieser Stellung unseres Teammanagers Ralf:
Ralf (Schwarz) hat eine Figur weniger, seine Dame und sein Turm stehen passiv. Die Engine reklamiert einen eindeutigen Vorteil für Weiß.
Die Chancen auf einen vollen, gar einen halben Punkt schienen aussichtslos. Ralf stand trotz gewiefter Ausgleichsbemühungen mit dem Rücken zur Wand. Doch wegen eines groben Schnitzers seines Gegners drehte sich das Spiel, der sicher geglaubte Punkt der Ammerländer zerfloss.
Ralfs Gegner zog in dieser Stellung c6?. Er ging wohl davon aus, dass der Bauer unaufhaltsam durchläuft, wenn Ralf auf g2 mit dem Springer zwischenschlagen würde. Aber…
…Ralf hatte das so wichtige Feld e7 für seinen Springer, wodurch er das unbehelligte Durchlaufen des Bauern verhindern konnte. Nach 40. Se7 blickte Ralf kurz zu seinem Gegner hoch, eine beliebte Signatur von Schachspielern, wenn sie wissen: das war’s, mein Lieber! 2,5:2,5
Brett 7: Das Kurioseste an diesem Tag spielte sich jedoch am siebten Brett ab:
Warum zeige ich dieses harmlose Eröffnungsbild? Weil es das einzige Mal (!) ist, wo Rainer in der Partie mit einer Figur die Mittellinie überquert hat. Danach nicht mehr, wirklich gar nicht mehr. Den Bus geparkt, wie einst König Otto 2004 mit Griechenland. Rehagel machte sich mit dem EM-Titel damals unsterblich, stieg in den Fußballolymp auf. Und Rainer? Hoch in die Zitadelle?
Das ist die Endstellung der Partie zwischen Rainer Hellmann und Rainer Kuhlmann. Rainer gewann, aber welcher der Rainers und warum? Unser Rainer freilich, der Häuptling der sieben Gefährten! Aber wie? Weiß steht doch sichtlich schlechter. Sein Namensvetter ließ völlig sorglos die Uhr herunterlaufen, in dem Glauben, der Zeitbonus würde schon nach 30 Zügen erteilt werden. Puh, welch Glück – nehmen wir trotzdem gerne mit! 3,5:2,5
Brett 3: Günter bekam schnell eine komfortable Stellung aufs Brett gezaubert. Dann aber drohte ihm die Partie zu entgleiten. Sein Gegner Gerd Wiechmann befreite sich und erzeugte gefährliches Gegenspiel. Aber auch Günter scheute nicht davor zurück, mit offenem Visier weiter zu attackieren. Das zwischenzeitliche Stellungsbild sah entsprechend aus:
Vogelwilde Stellung zwischen Günter und Wiechmann. Günter (Weiß) hat zwar eine Qualität mehr, doch der schwarze Bauer auf e3 steht gefährlich nah am Umwandlungsfeld. Unsere „Legende“ blieb cool, tauschte freudig ab und verschaffte sich einen Vorteil im Endspiel zwei Türme + Bauern vs. Turm und Läufer + Bauern.
Die Fesselung ist zu stark, obendrein droht der Bauer auf f4 zu fallen. Nach 48. Ke4 gab Günters Gegner auf. Schon wieder gewonnen, Partie und Mannschaftskampf. 4,5:2,5
Wir fühlten uns verpflichtet, eine Wasserstandsmeldung abzugeben: Unser unzweideutiges Siegerfoto (von links nach rechts: Ralf, Nazar und ich) als Antwort auf die Frage von Dirk, wie es denn momentan ausschaue.
Brett 6: Emil musste sich am Ende nach langem Kampf geschlagen geben. Zwischenzeitlich in Zeitnot geraten, rettete sich unser Routinier gerade so über die Zeitkontrolle. Die Stellung halten konnte er jedoch nicht mehr. 4,5:3,5
Irre! Wenn der Mannschaftssieg gegen Emden unter die Kategorie „Glück“ fiel, fehlt der deutschen Sprache ein passendes Substantiv, um die heutigen Ereignisse treffend zu beschreiben. Ohne die Bodenhaftung komplett zu verlieren, gewinnen wir fast schon im Stile einer Spitzenmannschaft überaus glücklich gegen die SG Ammerland mit 4,5:3,5. Damit fahren wir den fünften Sieg im fünften Ligaspiel ein. Und als kleine Randnotiz: den Klassenerhalt haben wir mit dem Sieg eingetütet! Der Kaponieros-Express steuert unaufhaltsam weiter voraus. Am 25. Februar um 10 Uhr empfangen wir im Pfarrheim St. Georg den Tabellenletzten Bad Essen. Unsere Siegesserie darf gerne um ein weiteres Kapitel fortgeschrieben werden.
Wer hätte diese Tabellenkonstellation vor der Saison für möglich gehalten? Die Aufsteiger Spelle und Vechta dominieren die Liga. Erst am letzten Spieltag kommt es zum direkten Aufeinandertreffen. Wer schreibt eigentlich dieses außergewöhnliche Drehbuch?